Meine Hand strich über das silberne, abgegriffene Geländer. Es fühlte sich kalt an, und doch verspürte ich eine gewisse Wärme, die von diesem imposanten, majestätischen Ort ausging.
Ich ließ meinen Blick umherschweifen. Steile Tribünen reihten sich eng aneinander und bildeten ein geschlossenes Bauwerk, während riesige Scheinwerfer den Rasen zu meinen Füßen in ein helles, gleißendes Licht fluteten.
Dies war also die legendäre Heimstätte, die sie Bökelberg nannten; wo bereits große Fußballer wie Günther Netzer und Allan Simonsen ihr Können gezeigt hatten. Ich konnte mir unter diesen Namen nichts vorstellen, doch mein Vater redete oft von ihnen, wenn es um Fußball ging.
Fußball ...
Ich stützte mich am Geländer ab und starrte auf die gegenüberliegende Fankurve, in deren Rücken der rötliche Abendhimmel loderte. Sachte, lauwarme Windbrisen streichelten meine blasse Haut und hinterließen eine leichte Gänsehaut. Ich genoss das Gefühl und ein Lächeln zauberte sich auf mein Gesicht, während ich beobachtete, wie sich allmählich das Stadion leerte. Wie sich der Bökelberg leerte.
Das Spiel war schon längst vorrüber. Borussia Mönchengladbach unterlag dem VfL Wolfsburg mit einem deutlichen 0:2, doch der Gedanke daran trübte nicht mal ansatzsweise meine gute Stimmung. Nein, die Euphorie, die seit dem Betreten des Stadions in mir aufgekeimt und sich während des Spiels entladen hatte, wollte ich nun leise und genießend ausklingen lassen. Noch immer spukten die lauten Fangesänge in meinem Kopf herum und noch immer wippte mein rechter Fuß im Takt der Musik mit. Ich selbst konnte es gar nicht fassen, welch Leidenschaft in mir brannte. Am liebsten würde ich die Zeit zurückdrehen und die letzten beiden Stunden noch einmal erleben, bloß um die Mannschaft zu sehen, die mich wie keine andere in den Bann zog.
In Gedanken verfluchte ich mich für meine Dummheit. Vor einigen Wochen hatte mir mein Onkel angeboten, mich mit auf die Reise gegen Hertha BSC Berlin und Wolfsburg zu nehmen, doch ich hatte, eitel wie ich war, abgelehnt und mich einzig und alleine für ein Spiel entschieden, um „Erfahrung zu sammeln“, schließlich sollte es mein erstes Fußballspiel sein, dass ich live im Stadion miterleben würde. Auch meine Mutter hatte mir Recht gegeben und gemeint, dass ein „raues und wildes Fanleben“ doch nichts für ein junges, feines Mädchen von gerade mal 9 Jahren wäre.
Wie falsch wir beide doch gelegen hatten.
Von diesem Zeitpunkt an wusste ich, dass der Verein, der schon meinem Onkel, meinem Vater, meinem Bruder den Verstand geraubt , auch meinen mit sich gerissen hatte. Bereits auf der Hinfahrt, als wir die Vereinshymne rauf und runter gespielt hatten, hatte sich eine gewisse Aufregung in mir breit gemacht und mein Misstrauen wie ein Stück Mist in der Toilette weggespült. Und dann, nachdem wir unser Auto in einer der kleinen Gassen im Stadtteil Eicken geparkt und verlassen, die Umrisse der Scheinwerfer erblickt hatten, war es um mich geschehen.
Es ist schon viele Jahre her, da ging mein Herz verlor'n,
in Eicken auf dem Bökelberg,
meine Liebe war gebor'n.
Ich atmete einmal tief ein und aus. Es war mein erstes und letztes Spiel, dass ich in diesem Stadion miterleben durfte. Die Saison 2003/04 sollte die Letzte des sagenhaften Bökelbergs sein, und ich war stolz, zumindest einmal hier gewesen zu sein.
Steile Ränge. Fahnenmeer. Schwarz-Weiß-Grün. Borussia.
Wie sehr ich diese Worte auch in Zukunft mit diesem Ort verknüpfen würde.
Langsam, aber sicher verschwand die strahlende, runde Kugel der Sonne hinter den Tribünen. Ich grinste. Sogar die Sonne schien ein einzig riesiger, glühend heißer Fußball zu sein.
„Lisa? Kommst du?“ Mein großer Bruder schmiss sich gegen das silbrige Geländer, sodass dieses leicht schwankte, und sah mich von der Seite an. Seine blaugrauen Augen strahlten etwas Glückliches und Frohes aus – auch ihm schien die Niederlage in Anbetracht der Tatsache, dass dies der letzte Besuch im Bökelbergstadion für ihn sein sollte, nichts auszumachen.
Ich behielt mein Grinsen bei und antwortete: „Na logo – und wehe, ihr fahrt ohne mich los.“
Mein Bruder lachte, stieß sich von der Eisenstange weg und sprintete mit riesigen Sätzen die Treppenstufen empor, an deren Ende bereits mein Onkel und mein Vater warteten.
Geistesabwesend schob ich meine Hand in die Hosentasche meiner Jeans und zog die bereits zerknitterte Eintrittskarte raus. Ich strich sie glatt und musterte sie eingehend, während ich mich in Bewegung setzte und kaum auf meine Schritte achtete.
Diese Karte war nicht bloß die Eintrittserlaubnis ins Stadion, nein, sondern auch der Einlass für eine neue Liebe. Nicht die Liebe, mit der wir unseren Mitmenschen zeigten, wie sehr wie sie mochten, jedoch eine viel weitreichendere Liebe, die ins Unvorstellbare überging.
Ich wusste jetzt schon, dass diese Karte einen Ehrenplatz in meinem Zimmer bekam, genauso wie ich wusste, dass sich noch weitere Artgenossen zu ihr gesellen würden.
...früher war alles besser...