
Wir sind zu sechst mit dem Sonderzug angereist. Die Abfahrtszeit des aus 15 Wagons und zwei Sambawagen bestehenden Zugs war für eine möglichst angenehme Gestaltung optimal. 20 Uhr abends ging es los, so dass man genug Zeit hatte, die eigene Schlaffähigkeit mit einigen Bieren zu fördern, bevor man sich einen Schlafplatz gesucht hat, um die Nacht halbwegs gut herumzukriegen. Ja, den Schlafplatz musste ich mir tatsächlich suchen bzw. mit Bier erkaufen, da wir in einem der wenigen Wagons ohne Liegen untergebracht waren. Können die Organisatoren vielleicht nicht direkt was zu, war aber dennoch eine starke Einschränkung unseres Komfort bei zwei 15-Stunden-Fahrten.
In der Schweiz dann ausgenüchtert und pünktlich wachgeworden, um die italienische Berglandschaft und den Blick auf den bis dato noch unbekannten See entlang der Bahnstrecke zu genießen. Gardasee oder Comer See, wurde gerätselt. Korrekt gewesen wäre allerdings der Lago Maggiore (deutsch: Langensee). Interessant waren zwischenzeitlich auch die Gesichtsausdrücke der Berufspendler an irgendwelchen Dorfbahnhöfen, die vor der Arbeit noch einen Zug zu sehen bekamen, bei dem an jedem Fenster jemand mit Bierdose oder Zahnbürste im Mund seinen Schädel rausstreckte.
Am Mittag des nächsten Tages in Turin angekommen dann aus dem Zug und erstmal viel Warterei. Das einzige was aus den Lautsprechern zu verstehen war, war der Hinweis, dass Liverpool-Schals aufgrund der Katasrophe im Heyselstadion 1985 nicht öffentlich zur Schau getragen werden sollten. Die Carabinieri riegelten den Bahnhof Porta Nuova ab - den Knüppel nicht nur griffbereit, sondern durchweg schwingend in der Hand - und leiteten uns verwundernswerterweise gleich in die Shuttlebusse. In den gut gefüllten, warmen Bussen und mit den menschlichen Bedürfnissen, die man so nach einer 15-stündigen Zugfahrt hat, dann wieder ewiges Warten. Das Ganze Theater schlussendlich für 850 Meter bis zu den Grünflächen am Corso Vittorio Emanuele II, von wo sich die Borussen wieder Richtung Bahnhof bewegten und in den umliegenden Kneipen, Bars und Fressbuden verteilten.
Auch wenn die ersten Eindrücke sowie die von den BVB-Fans berichteten Szenarien anderes vermuten lassen haben, muss ich an der Stelle bereits vorwegnehmen, dass Konzept und Personal des Sicherheitsapparates letztendlich positiv überrascht haben. Dazu aber später mehr.
Turin ist sicherlich nicht die schönste Stadt Italiens, bietet aber aus manchem Blickwinkel eine nette Perspektive auf die üblichen Sehenswürdigkeiten, die auch wir abklapperten, ebenso wie den Fluss mit dem lustigen Namen eines in der Umgangssprache vielzitierten Körperteils. Gegen Nachmittag sollte dann noch eine Pizza vertilgt werden, was sich zu dieser Uhrzeit zu einem schweren Unterfangen entwickeln sollte. Während sich, wirklich extrem, ein Café an das nächste reiht, war partout keine Pizzeria zu finden. Und schon gar keine, die geöffnet war. Nach irgendwann doch noch erfolgter Nahrungsaufnahme machten wir uns mit dem Linienbus auf den Weg zum Stadion. Da wir unsere Tickets trotz der schriftlichen Aussage, dass ein Verkauf an deutsche Staatsbürger nicht gestattet sei, über den italienischen Eventim-Ableger listicket.de bezogen hatten, wollten wir in jedem Fall auf Nummer sicher gehen. So war der Plan, gar nicht erst in einen Polizeikessel zu geraten, um das Risiko zu vermeiden, nicht mehr aus dem zum Gästeblock führenden Areal am Stadion herauszukommen. Im Bus kamen wir mit einer Italienerin ins Gespräch, die uns zuvor beim Kauf der Fahrkarte behilflich war. Die Unterhaltung beschränkte sich während der 40-minütigen Fahrt auf das Gestikulieren mit Händen und Füßen in Kombination mit diversen Vokabeln aus der Wörterbuch-App. Es dauerte demnach auch etwas länger, bis wir begriffen haben, gerade auf ein Bier am Stadion eingeladen worden zu sein. So tranken wir zwei Stunden vor Anpfiff noch mit unserer neuen Freundin Guiseppa in einem – wie kann es anders sein – umliegenden Café ein Bier. Kurioserweise saß die Dame auch gleich im Block nebenan und bot uns sogar mit mütterlicher Vorsorge an, dass ihr Ehemann uns nach dem Spiel zum Bahnhof zurückfahren könnte, damit wir auch ganz sicher den Zug in die Heimat um 00:30 Uhr bekommen würden. Ein Kopfnicken erschien uns in diesem Moment bequemer als eine begründete, aber höfliche Ablehnung auf Italienisch. Den vereinbarten Treffpunkt konnten wir aufgrund der Blocksperre für alle anwesenden Gladbach-Fans jedoch leider nicht wahrnehmen. Wir sahen Guiseppa nie wieder…
Die Organisation vor Ort war deutlich besser als erwartet. Bei den Einlasskontrollen gab es keinerlei Probleme; auch nicht für meinen Bruder, der am Tag der Abfahrt und eine Stunde vor Schließung der Bürgerämter in Essen noch spontan einen vorläufigen Personalausweis beschaffen konnte. Auch von den Leuten im Gästeblock habe ich es so vernommen, dass das gesamte Prozedere zwar etwas langwierig, dafür aber jederzeit entspannt war. Die Fans der Fohlenelf gaben aber auch keine Anlässe für Konflikte, muss man lobend dazu sagen.
Im Stadion fanden sich über das übliche Kartenkontingent von 2099 Tickets hinaus ganz locker 2000 weitere Anhänger der Raute in den umliegenden Blöcken wieder. Der Ordnungsdienst in diesen Bereichen verzichtete auf die Einhaltung der entsprechenden Sitzplätze auf den Karten und trennte die einströmenden Gladbach-Fans und Juve-Tifosi ganz gelassen und unaufgeregt, nach links zur Gegengerade oder rechts zum Gästeblock hin, auf. In der Mitte ein bisschen Flatterband und ein paar Stewards, fertig. Diese waren übrigens jederzeit überaus freundlich, ohne jedes Anzeichen von der italienischen Arroganz, auf die man sich eingestellt hatte. Ein falsches Vorurteil, erschlossen sich die einen; im Süden Italiens sei das anders, warnten die anderen. Die anwesenden Fans honorierten die Organisation auf jeden Fall mit einwandfreiem Benehmen. Stimmungstechnisch wusste vor allem das Vereinslied von Juventus zu gefallen, dass das gesamte Stadion in einer wahnsinnigen Lautstärke mitsang und das wir vor dem Stadion beinahe Karaoke gesungen hätten, als uns drei italienische Mädels in pinken Juve-Trikots dazu überreden wollten. Ansonsten zeigte die Curva Sud ein sehr mageres Bild und fiel in der Regel nur mit Pfiffen auf, die in manchen Fußballkulturen die gegnerischen Gesänge stören oder unterbinden sollen. Für die deutschen Fußballfans wirkte das Schauspiel eher wie ein Armutszeugnis für die eigene Stimmgewalt. Der Support der mitgereisten Gladbacher hatte einige Höhen und Tiefen, war aber insgesamt sehr ordentlich und gipfelte in einem VfL-Wechselgesang kurz vor Spielschluss, bei dem sich Ober- und Unterrang gegenseitig so pushten, dass förmlich eine Dezibel-Spirale entstand, die mit jedem Wortwechsel lauter zu werden schien. Das 0:0 gegen den Finalteilnehmer des letzten Jahres bedeutete für Borussia M‘Gladbach den ersten Erfolg in der Königsklasse seit dem 29.03.1978 (2:1 gegen Liverpool im Halbfinal-Hinspiel des Europapokals der Landesmeister). Dementsprechend lautstark umjubelten die mitgereisten Fans den historischen Punktgewinn. Als bereits kein Italiener mehr auf den Tribünen verweilte, strömten ca. 10-15 Gladbacher, auch aus 100 Metern Entfernung sichtlich angeheitert, aus dem VIP-Bereich der gegenüberliegenden Seite und amüsierten die 4000 wartenden Fans mit einem weiteren Wechselgesang.
Nach der Blocksperre ging es diesmal mit den Shuttlebussen (scusi, Guiseppa!) ins Zentrum der Stadt zurück, wo die Carabinieri abermals mit Zurückhaltung glänzten und man sich entspannt zum Sonderzug begeben und auf der Rückfahrt ein ähnliches Programm wie auf der Hinfahrt abspielen konnte.